"Unsere Religion ist frauenfreundlich"
Sie ist eine der bekanntesten Oppositionellen in Marokko, stand wegen scharfer Kritik am Königshaus bereits mehrfach vor Gericht und gibt sich als Feministin: Die Islamistin Nadia Yassine spricht im Interview mit SPIEGEL ONLINE über die Mängel der Monarchie und die Lage der Frauen in ihrem Land.
SPIEGEL ONLINE: Frau Yassine, wie kann man eigentlich Islamistin und Feministin zugleich sein?
Yassine: Das sind doch bloß Etiketten. Das entspringt der Logik der Medien, Dinge zu vereinfachen. Aber mal im Ernst: Die Geschichte der Frauenbewegung im Westen verläuft ganz anders als bei uns. Sie beruht auf anderen Traditionen, verfolgt andere Ziele. Oberflächlich gesehen – wenn es allein um die Rechte der Frauen geht – können Sie mich gerne als Feministin bezeichnen. Ich berufe mich aber auf eine andere Kultur, auf die islamische. Unsere Religion ist durchaus frauenfreundlich. In der Theorie, in unseren heiligen Texten, haben wir viele Rechte. Aber die Männer, diese kleinen Machos, haben uns dessen beraubt. Sie sind schuld, dass alle Welt das Gegenteil glaubt.
SPIEGEL ONLINE: Die säkulare Frauenbewegung in Marokko ist da ganz anderer Meinung: Sie hält bestimmte islamische Traditionen für schuldig, dass Frauen unterdrückt werden.
Nadia Yassine, Sprecherin der illegalen aber geduldeten Organisation "Gerechtigkeit und Wohlfahrt": "Unsere Religion ist viel eher imstande, soziale Probleme zu lösen als westliche Konzepte, die nur der Elite nutzen"
Großbildansicht
AFP
Nadia Yassine, Sprecherin der illegalen aber geduldeten Organisation "Gerechtigkeit und Wohlfahrt": "Unsere Religion ist viel eher imstande, soziale Probleme zu lösen als westliche Konzepte, die nur der Elite nutzen"
Yassine: Die säkularen Feministen sind doch nur Teil einer kleinen Elite. Sie leben in einer intellektuellen Blase, sie imitieren den Westen, sie haben sich von der islamischen Kultur entfernt. Sie sind Anhänger kleiner Parteien, die auf den König angewiesen sind. Deswegen wollen sie vor allem ihre Privilegien verteidigen. Die Islamisten dagegen sind populär, sie vertreten das Volk. Denn wir leben hier nun mal in einer islamischen Gesellschaft. Also frage ich Sie, wie soll denn die Frauenbefreiung anders funktionieren als auf dem Grunde islamischer Werte? Unsere Religion ist viel eher imstande, soziale Probleme zu lösen, als westliche Konzepte, die nur der Elite nutzen. Lösen Sie die sozialen Probleme, helfen Sie auch den Frauen. Die Frauen haben kein Problem mit dem Islam, sie haben ein Problem mit der Macht.
SPIEGEL ONLINE: Dabei hat Marokkos König doch ziemlich viel für die Frauen getan. Er hat 2004 das archaische Familienrecht erneuert, wonach Polygamie nur noch eingeschränkt möglich ist, und die Zwangsehe verboten wurde, genauso wie häusliche Gewalt. Sie haben diese Reformen trotzdem abgelehnt. Warum?
Yassine: Aus religiösen Gründen war ich nicht dagegen, aber aus politischen. Ich wollte auch, dass sich die Situation der Frauen verbessert. Natürlich ist es richtig, dass die Frauen mehr Freiheiten haben. Aber wie sieht das in der Praxis aus? Wie kann eine Frau zum Beispiel von ihrem Recht auf Scheidung Gebrauch machen, wenn sie danach keinen Job hat und auf der Straße landet? In den ländlichen Gebieten gibt es jetzt viel mehr illegale Hochzeiten. Dort haben die Frauen die Wahl: Entweder sie prostituieren sich, oder sie heiraten, oder sie wandern in die großen Städte ab. Der König hat ein Gesetz für die Frauen gemacht, die aufs Gymnasium gehen, aber nicht für die einfachen Menschen auf dem Land.
SPIEGEL ONLINE: Aber ist Marokko nicht auf einem guten Weg? Im Vergleich zu anderen arabischen Staaten gibt es doch eine gewisse Stabilität.
Yassine: Die gibt es, aber die wird nicht lange halten. Die Ausländer, die zu uns kommen und zuerst die sauberen Viertel von Rabat und Casablanca sehen, kriegen einen völlig falschen Eindruck. Hinter den Kulissen herrscht große Verzweiflung. Die Regierung mag die rechtliche Situation der Frauen verbessert haben, aber es gibt nach wie vor kaum Jobs für Jugendliche, wachsende Elendsviertel und kein funktionierendes Gesundheitssystem. In manche Viertel traue ich mich selbst nicht hinein, da ist die Aggression enorm.
SPIEGEL ONLINE: Was also würden Sie anders machen? Wie würde ein islamischer Staat nach Ihren Vorstellungen aussehen?
Yassine: Der Islam, den wir wiederbeleben wollen, ist ein Islam des Dialogs. Wir sind eine politische und soziale Organisation, aber wir sind auch eine gewaltfreie, eine spirituelle Bewegung. Wir glauben, dass der Koran eine universelle Botschaft transportiert. Wir kritisieren, dass Marokko eine autoritäre Erbmonarchie ist. Im Westen denken viele, dass arabische Gesellschaften automatisch despotisch sein müssen, aber das ist falsch. Ein islamisches Regierungsmodell nach unseren Vorstellungen ist, wenn Sie so wollen, sehr basisdemokratisch.
SPIEGEL ONLINE: Wollen Sie den säkularen Staat abschaffen?
Yassine: Der Säkularismus ist für mich ein Mythos. Der König lässt ja nur eine begrenzte Gewaltenteilung zu. Was wir wollen, ist wirkliche Demokratie und Transparenz. Wir fordern einen islamischen Pakt, der alle Gesellschaftsgruppen einschließt. Der nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner in diesem Land funktioniert: Dem Islam. Dieses Bündnis sollte eine neue Verfassung ausarbeiten, die nicht mehr die Autokratie bedient.
SPIEGEL ONLINE: Eine Verfassung auf Grundlage des islamischen Rechts, der Scharia?
Yassine: Wenn das der demokratische Wille des Volkes ist, ja.
SPIEGEL ONLINE: Im Mai 2003 starben bei islamistischen Selbstmordanschlägen in Casablanca über 40 Menschen. In diesem Jahr gab es erneut Terroranschläge. Wie schaffen Sie es eigentlich, sich von den Gewalttätern innerhalb des islamistischen Lagers abzugrenzen?
Yassine: Ich muss Ihnen leider sagen, neue Attentate sind genauso möglich wie die Gefahr eines Staatsstreiches. Der ökonomische Kontext hat sich ja nicht verändert. Während es bei ihnen im Westen seit Jahrzehnten eine funktionierende Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und eine Mittelschicht gibt, haben wir vor allem eine Oberschicht, die sich hemmungslos bereichert. Mit den gewalttätigen islamistischen Zellen haben wir nichts am Hut, aber wir verstehen ihre Beweggründe. Deswegen gelte ich auch als gefährlich. Ich bin ein wichtiger Gegner des Königs.
SPIEGEL ONLINE: Was würden Sie tun, wenn der König Sie bitten würde, mit ihm zusammenzuarbeiten?
Yassine: Es gibt immer wieder Versuche, mich ins System zu integrieren. Mal werde ich eingeschüchtert, mal angelockt. Aber solange es keine integralen Veränderungen in diesem Land gibt, kann ich nicht Teil des politischen Spiels sein.
SPIEGEL ONLINE: Und Sie haben kein Problem damit, dass auch Ihre eigene Bewegung von Männern dominiert wird?
Yassine: Das ist normal, das ist doch fast ein Naturgesetz. Männer stehen immer an der Spitze von großen Organisationen. Aber es gibt viele Frauen in der Basis. Wir brauchen nicht einmal eine Quote, auch da müssen wir den Westen nicht imitieren.